Gastbeitrag von Red Dot Juror Thilo von Debschitz

Typografische Entdeckungen

Wenn man Nicht-Designern im Freundeskreis berichtet, dass beim Red Dot Design Award auch Schriften bewertet werden, blickt man stets in ratlose Gesichter: Gibt es nicht schon genug unterschiedliche Buchstaben, kann man da denn überhaupt etwas neu erfinden? 

Ja, man kann – wenn man bereit ist, den Horizont der bekannten typografischen Welt zu überwinden und auf dieser Reise Freude an der Entdeckung neuer Gebiete hat! Monotype zählt dabei regelmäßig zu den Siegern des Wettbewerbs, die bekannte Type Foundry sicherte sich schon häufig den begehrten roten Punkt. Ihre Arbeiten zeichneten sich vielfach durch eine besonders große Liebe zum Detail und durch hervorstechende Qualität aus. Grund genug, den Scheinwerfer noch einmal auf ausgewählte und preisgekrönte Einsendungen der vergangenen Jahre zu richten.

72 Font Family für SAP Fiori

Zum einen sind Schriften darunter, die für Unternehmen entwickelt wurden. Zum Beispiel der Font 72, der speziell für die SAP-Plattform Fiori entstand.

Sein Name leitete sich aus dem Jahr 1972 ab, in dem SAP gegründet wurde. Für die spezifischen Anforderungen der Verwendung auf Bildschirmen setzt die 72 auf offene Buchstabenformen, die in kleinen Proportionen nicht optisch zulaufen – wie beim Binnenraum der Lettern c oder e. Auch das l – das kleine L – kann durch seine Rundung am Fuß nicht mehr mit einem Vertikalstrich verwechselt werden. Solche Aspekte guter Lesbarkeit sind nicht nur, aber auch für barrierefreie bzw. barrierearme digitale Anwendungen wichtig. Gleichzeitig wirkt die Schrift individuell und modern, vor allem gegenüber der bislang genutzten Arial.

Mit seinen sieben unterschiedlichen Schnitten sowie zahlreichen internationalen Zeichen schafft 72 für die Anwender des Benutzerinterfaces Fiori neue ästhetische Möglichkeiten in der Aufbereitung von Information.

Macklin

Ein ganz anderes Beispiel ist die Schriftfamilie Macklin, entworfen von Malou Verlomme.

Der Typedesigner hatte sich vom Erbe des britischen Schriftgießers Vincent Figgins (1766–1844) inspirieren lassen und übertrug die Sinnlichkeit dessen erstaunlichen Werks in die Gegenwart. In vier Kategorien (Text, Display, Slab, Sans) sorgen insgesamt 54 Schriften mit neun Schnitten für schier unendliche Kombinationsmöglichkeiten. Die betonten Konturen, scharfen Kanten und fein ausgewogenen Stärken verleihen Macklin eine eigentümliche Eleganz, die sich sowohl bei Überschriften als auch bei Fließtexten wunderbar entfalten lässt.

Zu meinen Lieblingsbuchstaben zählen die „7“ und der Buchstabe „C“, gesetzt in der Macklin Pro Slab. 

Helvetica Now

Die Helvetica wurde als eine der mittlerweile wohl bekanntesten Schriften ursprünglich in den 1950er Jahren veröffentlicht. Mitte der achtziger Jahre kam dann die Neue Helvetica auf den Markt.

Waren damit nicht schon alle Lettern vorhanden, die man brauchte? Warum beschäftigte man sich im 21. Jahrhundert noch einmal intensiv mit dieser Schrift? Die Antwort ist einfach: Es musste für die analoge Vorlage eine digitale Antwort gefunden werden, so entstand die Helvetica Now.

Die Schrift enthält nun über 400 Zeichen wie passende Pfeile und zahlreiche Alternativbuchstaben, die Designerinnen und Designern neue Perspektiven eröffnen. So gibt es ein großes G oder ein kleines u ohne Abstrich, wenn es für den gestalterischen Ausdruck wünschenswert ist sowie eine Microversion für Klein- und eine Displayversion für Großgedrucktes. Die formale Ausführung und Spationierung der Buchstaben ist so ausgerichtet, dass sie sowohl in Drucksachen als auch auf dem Monitor eine gute Figur machen.

Uns als Juroren hat beeindruckt, wie meisterhaft man bei Monotype eine bekannte Schriftpersönlichkeit noch einmal mit ganz neuem Leben füllen konnte und so wurde die Schrift 2019 mit einem Red Dot: Best of the Best ausgezeichnet. Übrigens erhielt Monotype drei Jahre später dann noch die Auszeichnung „Red Dot Winner“ für die Helvetica Now Variable.

TYPO Labs

How far can we go? Mit dieser Frage beschäftigten sich die von Monotype ausgerichteten „TYPO Labs“ im Jahr 2018, ein Branchentreffen von Fachleuten aus dem Bereich Typografie und Technologie.

Und wie weit man mit Schrift gehen kann, demonstriert das von Olli Meier für die Veranstaltung geschaffene Erscheinungsbild: Ein serifenloser, variabler Font lässt sich auf alle denkbaren Formate anpassen, Höhe, Breite und Stärke der Buchstaben kann man beliebig regeln – in diesem Fall ganz bewusst bis an die Grenzen des Lesbaren.

Die Technologie für übergangslos regelbare Schriften war zu diesem Zeitpunkt noch recht neu, deswegen bot sie sich für die visuelle Identität der „TYPO Labs“ an. So entstanden spannende Flächen, die teilweise nur noch durch feine Striche als Buchstaben oder Ziffern zu erkennen waren, ebenso wie Animationen, bei denen einzelne Wortteile miteinander um Raum zu ringen scheinen. Einige Wörter wirkten fast wie Barcodes, andere plustern sich auf wie Ballons – ein spannendes Experiment, das großen Spaß auf die Auseinandersetzung mit Schrift machte.

Und es zeigt sich nicht nur an diesem Beispiel wieder einmal: Die Grenzen der typografischen Welt sind noch lange nicht ausgelotet. Freuen wir uns auf weitere Entdeckungen und Red-Dot-Einsendungen von denjenigen, die sich in die unerforschten Gebiete des Schriftdesigns wagen!

Anmeldungen noch bis 16. Juni 2023 möglich

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Über den Autor

Nach Stationen als Art Director in verschiedenen Unternehmen gründete Thilo von Debschitz 1997 gemeinsam mit Laurenz Nielbock die Designagentur Q in Wiesbaden. Diese hat seither zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten. Neben seiner Agenturtätigkeit verfasst Thilo von Debschitz Bücher mit Fokus auf bildende Kunst. Große Aufmerksamkeit erregte er mit der Wiederentdeckung des Infografik-Pioniers Fritz Kahn und der Veröffentlichung einer ihm gewidmeten Monografie. Thilo von Debschitz lehrte an der Hochschule RheinMain und am Institut für Marketing und Kommunikation in Wiesbaden. Heute ist er außerdem regelmäßig als Gastredner zum Thema Design auf Konferenzen vertreten.