Chuantao Zhu
Über Begierde reflektieren und zugleich Begehrlichkeit wecken: Die Arbeit des chinesischen Nachwuchsdesigners Chuantao Zhu möchte man sofort zur Hand nehmen, das seidige Papier zwischen den Fingern fühlen und sich in den perfekten Buchsatz vertiefen. Auf 2.000 Seiten und mit über 300 Zeichnungen und Grafiken wird dem Thema „Begierde“ auf Grundlage der Göttlichen Komödie Dantes nachgespürt. Denn in diesem etwa 1321 vollendeten Werk sieht Chuantao Zhu durchaus Parallelen zur heutigen Gesellschaft, die allzu gerne flüchtigem Begehren den Vorzug vor wahrhaftigen Bedürfnissen gibt. Ein Jahr lang arbeitete der frischgebackene Bachelorabsolvent der Macau University of Science and Technology akribisch an Layout und Artworks und verlieh beidem durch die Wirkung der Materialität eine zusätzliche Ebene. In einem wasserabweisenden Papier mit hoher Transparenz fand Chuantao Zhu genau das Material, das seinen Vorstellungen entsprach. Die besondere Bindung zweier Buchblöcke setzte einen weiteren Akzent. Doch damit nicht genug: Um der Übersetzung der „Divina Commedia“ in chinesischer und englischer Sprache gerecht zu werden, realisierte Chuantao Zhu zwei Versionen seiner Arbeit. Darüber hinaus soll ein korrespondierender Miniaturband – gerade einmal handtellergroß – ebenfalls den Geist Dantes transportieren und den Spiegel der Reflexion jederzeit greifbar machen. So gelang Chuantao Zhu ein beeindruckendes ästhetisches Gesamtwerk, das sicherlich auch seinem beruflichen Vorbild, Armin Hofmann, gefallen hätte.
Interview mit Chuantao Zhu
Auf Grundlage der „Divina Commedia“ analysierten und visualisierten Sie das Thema „Begierde“. Welche Überlegungen stellten Sie im Vorfeld an?
Die Arbeit basiert auf meiner Reflexion über weitverbreitete negative Phänomene in der modernen Gesellschaft, einschließlich Konsumverhalten, Materialismus, Hedonismus und Narzissmus. Mir fiel auf, dass die Menschen heute oft nach sofortiger Befriedigung und oberflächlichen Vergnügungen streben und dabei die Bedeutung dauerhafter Werte und langfristiger Ziele aus den Augen verlieren. Dies führt zu einer Vernachlässigung der inneren spirituellen Bedürfnisse und der moralischen Verantwortung. Als Antwort darauf habe ich versucht, antike disziplinäre Methoden zu erforschen und stieß auf Dantes „Göttliche Komödie“. Er erzählt von einer „Reise“, um seine Ansichten über menschliches Verlangen und Sünde zu verdeutlichen, in deren Verlauf der ständige Konflikt zwischen Körper und Willen zutage tritt. Das „Begehren“ spielt eine komplexe und vielschichtige Rolle; es ist sowohl eine Herausforderung, die es zu überwinden gilt, als auch eine Kraft, die in Tugend verwandelt werden kann.
Das Ergebnis sind ein chinesischer und ein englischer Band, die sich auch formal unterscheiden. Was waren die Beweggründe dafür?Ursprünglich wollte ich beide Sprachen in einem Layout kombinieren. Nachdem ich jedoch sowohl die chinesische als auch die englische Version der „Göttlichen Komödie“ gelesen hatte, entschied ich mich für zwei Bände. Das Leseerlebnis unterscheidet sich in den jeweiligen Übersetzungen erheblich, und ich wollte den spezifischen Qualitäten der einzelnen Sprachen besser gerecht werden.
Die Gestaltung ist durchgehend monochrom. Welche Bedeutung hatte das für Sie?
Der Kontrast zwischen Schwarz und Weiß spiegelt den inneren Kampf und das Gleichgewicht im Menschen wider. Er steht sowohl für Herausforderungen, die es zu überwinden gilt, als auch für Kräfte, die in Tugenden umgewandelt werden können. Diese Gestaltung vermittelt ein Gefühl von Einfachheit, Reinheit und tiefgründiger Symbolik. Dieser Ansatz fördert die Einheit und die Kohärenz des Buches, hebt seinen Inhalt hervor und verleiht ihm gleichzeitig eine moderne Ästhetik.
Können Sie noch etwas über die zusätzliche Miniaturausgabe erzählen?
Ich hoffe, dass ich mit dem kleinen Buch einen von Dantes Grundsätzen beim Schreiben der „Göttlichen Komödie“ nachahmen kann. Er nutzte eine einfache Sprache, um die Massen zu erreichen, und schuf einprägsame Gedichte, die verschiedene Gesellschaftsschichten und Sprachstile überspannen. Indem ich das Buch so verkleinerte, dass es in eine Handfläche passt, wollte ich die Möglichkeit schaffen, es jederzeit und überall zu lesen. So wie Dante seine Gedichte vor über 700 Jahren verbreitete, hoffe ich, dass in diesem Format mehr Menschen auch mein Werk lesen und verstehen werden.